Grundwissen Grammatik

 

Mittelhochdeutsch zum Nachschlagen und Lernen

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Der ‚e/i‘– bzw. ‚ie/iu‘– Wechsel

Andere Bezeichnungen für das genannte Phänomen: „Stammvokalalternation“, „sekundärer Präsensstamm“, „Vokalhebung“, „Vokalerhöhung“, „Wechselflexion“ – diese Begriffe umfassen allerdings unter anderem auch den klassischen i-Umlaut e, ä, ö, ü bei den umlautfähigen Vokalen a, o, u.

Im Neuhochdeutschen tritt der ‚e/i‘– Wechsel bei der 2. und 3. Person Singular Indikativ und bei der 2. Person Singular im Imperativ auf: ich gebe → du gibst; ich lese → er liest, ich esse → iss.
Außerdem erscheint er bei Wörtern mit ö oder ä, die im Mittelhochdeutschen noch mit e geschrieben wurden: ich gebäre (gebern, mhd.) → du gebierst; erlöschen (erleschen, mhd.) → sie erlischt.

Mittelhochdeutsch: Der ‚e/i‘ - bzw. ‚ie/iu‘ – Wechsel betrifft auch die 1. Person Singular und findet bereits in voralthochdeutscher Zeit statt. Allerdings verdeutlichen die althochdeutschen Personalendungen den Grund für diese Erscheinung.

Indikativ Präsens: Starke Verben - althochdeutsch

  (1) Älteste Form (2) Tatian (3) Otfrid (4) Notker
  Beginn des. 9. Jh. 825 ca. 865 ca. 1000
Infinitiv neman ziohan faran
râten
1. Sg. nimu ziuhu faru râto
2. Sg. nimis ziuhis(-t) ferist(-is) râtest
3. Sg. nimit ziuhit ferit râtet
1. Pl. nemumês(-amês -emês) ziohemês(- ên) farên râten
2. Pl. nemet ziohet faret râtent
3. Pl. nemant ziohent farent râtent
Nhd. 'nehmen' 'ziehen' 'fahren' 'raten'

Die rot gekennzeichneten Vokale der ahd. Formen bewirken bei (1) den ‚e/i‘ - bzw. bei (2) den ‚ie/iu‘ – Wechsel, bei (3) kommt es „nur“ zum Umlaut! Bei (4) findet keinerlei Vokalveränderung statt.

Das j bei den ehemaligen j-Präsentien  bewirkt das durchgehende i bei Wörtern der Ablautreihen V und das durchgehende e bei Wörtern der Ablautreihe VI im Singular und Plural des Präsens:
V - j-Präsentien bitten: ‚bitten’, ligen: ‚liegen’, sitzen: ‚sitzen’
VI - j-Präsentien heven: ‚heben’, entseben: ,bemerken’, schepfen: ‚schaffen’, swern: ‚schwören’

Der ‚e/i‘ - bzw. ‚ie/iu‘ – Wechsel im Mittelhochdeutschen wird also bedingt durch voralthochdeutsch folgendes i, j oder u und betrifft ausschließlich den e– oder ie–Laut. Dieser Wechsel wirkt auf sämtliche Indikativ Präsensformen im Singular und den Imperativ Singular der starken Verben   .
Der Umlaut, der im Präsens in den Ablautreihen   VI und VII auftreten kann, betrifft dagegen nur die 2. und 3. Person Singular Indikativ, nicht aber den Imperativ.

Die häufigste Bezeichnung für den ‚e/i‘ - Wechsel ist 'Hebung'. Der Begriff "Hebung" erklärt sich durch einen Blick auf das Vokaldreieck: Vokaldreieck
i liegt im Dreieck oben, deshalb kann man sagen, dass e zu i gehoben wird.
[Weil u ebenfalls im Dreieck oben liegt, kann man sagen, dass u zu o gesenkt wird: Häufig ist das bei den Partizip-II-Formen der starken Verben der Ablautreihen II, IIIb und IV.]
Mehr zu "Vokaldreieck" und "Vokaltrapez" bei wikipedia

Zum ‚ie/iu‘-Wechsel in Ablautreihe II:

Die Ablautreihe II (a und b) ist gekennzeichnet durch das ‚ie‘ im Infinitiv und im Plural Präsens. Im Germanischen ist als Ursprung dafür der Stammvokal *eu. anzunehmen.
Vor i, j, u in der Folgesilbe (im Sg.Ind.Präs.) sowie auch vor w wird germ. *eu durch ‚Hebung‘ des ersten Bestandteils (Paul, Mhd.Gr., § L 10 sowie besonders § L 44) zu *iu entwickelt.
Germanisch *eu vor i, j, u und w wird zu iu und dann auch monophthongiert zu /ü:/!
Wo in der - althochdeutschen - Konjugation i, j, u fehlen bzw. wenn als Folgekonsonant kein w auftritt, wird das germanische *eu über ahd. eo, io, ie zu mhd. ie - Senkung.

a) Für Verben mit Stammvokal iu - bliuwen, briuwen, kiuwen, niuwen, riuwen - ist eine Stammvokalalternation im Präsens nicht belegt, in einer deutlichen Landschaftsdifferenzierung zeigt der Präsensstamm obd. vorwiegend iu und mitteldeutsch û.
b) Verben mit Stammvokal û - lûchen, snûden, sûfen, sûgen, tûchen -  zeigen keine Stammvokalalternation, der Präsensstamm hat stets û.

Zum ‚e/i‘-Wechsel in den Ablautreihen III, IV, V:

Das i ergibt sich durch den kombinatorischen Lautwandel *e zu *i  - der bewirkt wird durch vormittelhochdeutsch folgendes i, j, u oder durch folgenden Nasal   + Konsonant.- Hebung

Deshalb weisen starke Verben der Ablautreihen IIIb, IV, V Stammvokalalternation e → i auf. Der primäre Präsensstamm der Ablautreihen IIIb, IV und V hat Stammvokal e, [in Ausnahmefällen auch i ( j-Präsentien) sowie o (,komen')]. Der sekundäre Präsensstamm dieser Reihen, der alle indikativischen Singularformen inkl. Imperativ betrifft, lautet durch Hebung des e nun i.

[Starke Verben der Ablautreihe IIIa haben im Präsens durchgängig i wegen der Na­sal+Kon­so­nant-Kom­bi­na­tion in der Fol­ge­silbe. Grund dafür ist die Hebung e → i vor Na­sal [m, n] + Kon­so­nant (Paul, Mhd.Gr., § L 7)]


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