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Mit­tel­hoch­deutsch: Der Rückumlaut

Rückumlaut

Darunter versteht man das Phänomen, dass im Mittelhochdeutschen im Indikativ des Präteritums vieler schwacher Verben   kein Umlaut   vorhanden ist, während im Präsens die Verben umgelautet sind.
Beispiel: Inf.: nennen, 1. Pers. Sg. Präs.: ich nenne, 1. Pers. Sg. Prät.: ich nante / nande, 1. Pers. Sg. K II.: ich nennte, Partizip II: genennet - genant.

Während es im Neuhochdeutschen gerade noch acht "rückumlautende" Verben gibt, findet man im Mittelhochdeutschen circa 500 verschiedene präfixlose Verben mit "Rückumlaut". Sie machen etwa 11 Prozent aller Verben in literarischen Texten aus. Siehe dazu auch 'Verbkategorien'.

Achtung: Auch das E gilt häufig als Umlaut von einem A. Deshalb spricht man sogar im Neuhochdeutschen beim Wort 'brennen' von einem "Rückumlaut", weil die Präteritumsform ein A enthält: es 'brannte'.

Bei der Suche nach der richtigen Infinitivform muss man also damit rechnen, dass ein "Rückumlaut" vorliegt. Dann sucht man im Lexikon unter 'brennen' und nicht unter '*brannen'.

Im Konjunktiv Präteritum   sind die "rückumlautenden" Verben im Oberdeutschen in der Regel umlautlos, die Formen entsprechen folglich denen des Indikativs Präteritum: „stalte“, „hôrte“.
Ausnahmen sind „bringen“, „denken“, „dunken“, „dünken“, „wirken“, „würken“, „vürhten“: „brâhte – bræhte“, „dâhte – dæhte“, „dûhte - diuhte“, „worhte – wörhte u. würhte“, „vorhte - vörhte“.
Im Mitteldeutschen   treten dagegen häufiger umgelautete K II-Formen auf, die sich nur durch das Präteritalsuffix –te vom Präsens unterscheiden „stelte“, „hœrte“.
Die neuhochdeutschen Konjunktiv-II-Formen „brennte“, „nennte“, „kennte“ usw. leiten sich also vom mitteldeutschen Formenbestand ab.

Auch im heutigen Deutsch lässt sich bei "rückumlautenden" Verben ein Konjunktiv II mit den Präsensvokalen bilden.

Beispiel … Genesis 2 / 19: "Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere … und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte …" - nicht "nennen würde" - denn die Verwechslung mit dem Indikativ "nannte" ist nicht möglich. Bei den "normalen" schwachen Verben dagegen fällt der Konjunktiv II mit dem Indikativ Präteritum zusammen. Deshalb wird er in der Regel mit "würde" umschrieben.

Für das Partizip II   "rückumlautender" Verben im Mittelhochdeutschen gilt, dass häufig umgelautete und nicht umgelautete Formen nebeneinander nachweisbar sind: 'gebrennet' und 'gebrant'.
Während bei der Verwendung der Partizip-II-Formen als Bestandteil einer analytischen Verbform, z. B. im Perfekt oder Passiv - 'siu wart Eva genennet', die umgelauteten Formen mit den Präsensvokalen tendenziell häufiger eingesetzt werden, erscheint beim Gebrauch der Partizip-II-Formen als Verbaladjektiv, also bei deklinierten Partizip-II-Formen - 'eine genante steuer geben', eher die unumgelautete Form mit Präteritumsvokal.

Mögliche Vokale bei rückumlautenden Verben:
ea (vellen – valte, ergetzen – ergazte, leschen – laschte, heften – hafte, senden – sante …)
äa (värwen - varwete, varte, kälchen - kalkte …)
æâ (wænen - wânte, bæren - bârte, sæjen - sâte …)
iuû (hiulen - hûlte, hiuten - hûte, diuten - dûte …)
üo (vürhten - vorhte, würken - worhte, verstürn - verstorte …)
üu (antwürten - antwurte, drücken - dructe, würgen - wurgte …)
üeuo (üeben - uopte, vüeren - vuorte, büezen - buozte …)
œô (krœnen - krônte, lœsen - lôste, trœsten - trôste …)
öuou (dröuwen - droute, vröuwen - vrouwete, löugen - lougte …)
Der rötlich gekennzeichnete Vokal rechts stellt den Präteritumsvokal dar!

Daneben gibt es Sondererscheinungen, bei denen folgende Vokale sich im Präsens bzw. Präteritum gegenüberstehen:
eâ (denken - dâhte)
êa (kêren - karte)
êâ (kêren - kârte)
io (wirken - worhte)
iâ (bringen - brâhte)
üû (dünken - dûhte)

In Bezug auf die Gesamtmenge der erfassten 'rückumlautenden' Verben im Mittelhochdeutschen ergeben sich folgende Häufigkeiten:

Prä­te­ri­tum Häufig­keit im Prä­te­ri­tum bei
‚rück­um­lau­ten­den‘ Ver­ben
Prä­sens Ver­wechs­lungs­ge­fahr im Prä­te­ri­tum mit …
a etwa 39,6 % meist e Ab­laut­rei­he IIIa, IIIb, IV, V
u etwa 20,4 % meist ü Ab­laut­rei­he IIa, IIb, IIIa, IIIb
â etwa 10,4 % oft æ, aber auch ê Ab­laut­rei­he IV, V, VIIa
uo etwa 10,2 % meist üe Ab­laut­rei­he VI, VIIb
û etwa 7,4 % sehr oft iu, aber auch üe
ô etwa 6,2 % meist œ Ab­laut­rei­he IIb
ou etwa 2,7 % meist öu (eu), aber auch iu Ab­laut­rei­he IIa
o etwa 2,7 % oft ü, aber auch ö oder i  

Der Begriff "Rückumlaut" geht zurück auf Jacob Grimm, der meinte, dass ein ursprünglicher Umlaut wieder beseitigt wurde. Diese Annahme lässt sich aber für das Germanische nicht nachweisen. Allerdings ist der Begriff erhalten geblieben und findet sich auch in der aktuellen Ausgabe der Duden-Grammatik.

Für mitteldeutsche Texte   ist zu bedenken, dass die graphische Kennzeichnung des Umlauts weithin unüblich ist, sodass man keine qualifizierte Aussage über das Vorliegen eines "Rückumlauts" treffen kann, vgl. Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik.
So ergibt sich folgende Problematik: Das Verb „schützen“ gilt als rückumlautend, da seine Präteritalformen „schuzte“ – „geschuz(t)“ lauten.
Die mitteldeutsche Variante wird jedoch als ein einfaches schwaches Verb gekennzeichnet, da die Stammformen „schutzen“, „schuzte“, „geschuzt“ lauten, vgl. mitteldeutsch: „hôren“ – „hôrte“ –„gehôrt“.

Bei Verbformen aus Handschriften   – also nicht in „normalisierten“   Editionen –  sollte man stets folgendes Zitat im Hinterkopf haben:
„Nur bei den Umlautbezeichnungen e – a und ǟ – ā, die im Prät. mit ca. 60%–70% in den Hss. graphisch markiert sind, kann für die Erscheinung ‚Rückumlaut‘ überhaupt eine Aussage getroffen werden. Alle anderen Umlautgraphien treten erst im Verlauf des Mhd. in Erscheinung, im Präsens ebenso wie im Präteritum, so dass unmarkierte präteritale Formen ebenso für unmarkierten Umlaut wie für lautlich bedingten ‚Rückumlaut‘ stehen können.“
[KLEIN, Thomas, Hans-Joachim SOLMS, Klaus-Peter WEGERA, 2018. Mit­tel­hoch­deut­sche Gram­ma­tik Teil II Flexions­mor­pho­lo­gie, Ber­lin, Bos­ton, § V 85 - Sei­te 795]


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